Lieber Werther!
Ungöttlicher; welch Schmach Du erleiden mußt; bei hohem Stand und nied’rem verpönt. Verständnis scheinst Du wenig zu bekommen und dennoch bringe Ich es Dir entgegen aus tiefster Seele.
Doch Selbstverschuldnis kann und muß Ich Dir dabei vorwerfen, mein lieber Werther, du glücklichster und zugleich unglücklichster Mensch von allen. Dein Starrsinn Dich nicht anpassen zu wollen, Dich nicht biegen zu wollen, macht dich zum Tor. Was bringt‘s? Freiheit von den Fesseln der Gesellschaft, aller Stände? Eine schöne Sache, mein Freund, die schönste Sache, jedoch nicht, wenn Einsamkeit und Isolation das Ergebnis ist. Eine Narrenfreiheit will ich das nennen, die es nicht Wert ist ausgelebt zu werden und nur ein Mondsüchtiger käme auf diese Idee.
Doch bleibt auch Mir als Gesellschaftsmensch die Problematik, der konventionellen Methode nicht verborgen. Die Anpassung an die Meinung und die daraus resultierende Schaffung von Pseudo- Ichs, die von Gesellschaft zu Gesellschaft eine andere Meinung vertreten. Wie zum Beispiel Fräulein von B., spielt Sie Dir einerseits unter vier Augen vor, Deine Vertraute zu sein, so betrügt Sie dich doch im Beisein anderer. Oder auch der Graf, welcher zwar kein Pseudo- Ich aufweist, denn immerhin macht Er Dir Seine Zuneigung deutlich mit Seinem gefühlvollem Händedruck, und Sich dennoch an die Gesellschaft Bedingungslos anpaßt, in dem er Dich trotz dieser Zuneigung herausschmiß.
Andere Lösungen scheinen sich nur schwer finden zu lassen. Sich ein Messer ins Herz zu bohren, würde Ich jedoch als unpassend bezeichnen, nein, eine gar schlecht’re Lösung gibt es nicht. Versuch Dir treu zu bleiben wie zuvor, doch ohne dabei negativ aufzufallen. Also sprich nicht, wenn es unpassend ist. Wenn das Reden Silber ist, so ist Schweigen Gold. Und wenn du die Kontrolle zu verlieren scheinst, dann entledige Dich Deiner Wut, indem Du einfach körperliche Arbeit verrichtest. Such dir eine Aufgabe; vielleicht einen alten Garten, den du neu herrichten kannst.
Ich steh Dir bei zu Zweit und auch unter Gesellschaft.
Mit freundlichsten Grüßen; dein Wilhelm