Mein lieber Werther,
Als erstes möchte ich dir, mein lieber Freund, mein größtes Beileid aussprechen. Welch ungeheure Demütigung ist dir da widerfahren! Dies kam deiner momentanen Gemütsfassung auf's Sicherste nicht zu Gute.
Jedoch, verzage nicht. Dies Geschehnis hat auch seine guten Seiten. Nun bist du frei von den Fesseln der Gesellschaft! Die Welt liegt dir offen und grenzenlos zu Fuße. Du kannst sie nun losgelöst und unabhängig auf eigene Faust entdecken.
Dennoch bleiben freilich Unklarheiten bezüglich deiner früheren Vertrauen, dem Grafen und das Fräulein B.
Ohne Frage, der Graf musste um seines Ansehens Willen so handeln. Er führte die dortige Gesellschaft an und musste sich dem Gemeinwillen fügen. Das Fräulein B hingegen hatte jedoch zunächst keinen ersichtlichen Grund, dir nicht beizustehen. Stelle sie also zur Rede. Sie könnte der Schlüssel zur Rettung vor der wohlmöglichen Isolation deinerseits sein. Diese Losgelöstheit von der Gesellschaft birgt nämlich auch die Gefahr der fehlenden Zugehörigkeit. Du schließt mit deinen Gefühlen ab, willst dich ihrer entledigen. Ich sage, Vorsicht, mein Freund! Befolge meinen Rat, sprich mit dem Fräulein aus. Warte desweiteren bis sich der Tratsch gelegt hat, dann strebe nach neuen Bekanntschaften innerhalb der Bürgerkreise. Möglicherweise tat dir der adlige Umgang auch nicht gut, bleib also erst bescheiden.
Gib dich natürlich und passe dich nur zu Anfang an die dominierende Persönlichkeit, die jetzo im bürgerlichen Volke herrscht, an. Eine völlige Anpassung hätte den Verlust deines Ichs zur Folge, ein Selbstverrat wie ich ihn keinesfalls gutheißen könnte. Bleib bitte deinem Wesen treu, mein guter Freund. Ich wünsche dir viel Erfolg.
Dein ergebener Wilhelm.